Schockschäden Hinterbliebener nach Arbeitsunfall zu ersetzen

06.02.2007 - BGH - Aktenzeichen VI ZR 55/06

Bundesgerichtshof

Urt. v. 06.02.2007, Az.: VI ZR 55/06

Gehört zu

LG Offenburg, Entscheidung vom 30.09.2004 - 2 O 138/04

OLG Karlsruhe in Freiburg, Entscheidung vom 10.02.2006 - 14 U 174/04

eigene Zusammenfassung:

In diesem Urteil hat der Bundesgerichtshof klargestellt, dass die Ansprüche von Hinterbliebenen nicht durch die Privilegierung des § 105 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen sind. Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass bei Arbeitsunfällen die Arbeitnehmer eines Betriebes sich gegenseitig kein Schmerzensgeld zu bezahlen haben. Es sind nur Ansprüche gegen die Berufsgenossenschaft möglich. Zum damaligen Zeitpunkt gab es noch keinen Anspruch auf Hinterbliebenengeld nach § 844 III BGB im Gesetz. Die Hinterbliebenen machten hier einen Anspruch auf Schockschaden (Schock aufgrund der Nachricht des Todes) geltend. In diesem Urteil wurde argumentiert, dass es sich gerade nicht um die Ansprüche der Hinterbliebenen des bei dem Arbeitsunfall Getöteten handelt, sondern um deren eigene Ansprüche aufgrund deren eigener erlittener Gesundheitsbeeinträchtigung.

In einem neueren Urteil des Bundesgerichtshofs vom 08.02.2022, Az. VI ZR 321 hat der BGH nun festgelegt, dass der Anspruch auf Hinterbliebenengeld wegen seelischen Leids der Hinterbliebneen eines bei einem Arbeitsunfall Getöteten ausgeschlossen sein soll. Ob eine komplette Rechtsprechungsänderung auch für Schockschäden mit derneueren Rechtsprechung verbunden ist, hat der BGH bislang nicht beantwortet.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 14. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 10.02.2006 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Der damals 25-jährige Sohn der Klägerin verstarb am 07.01.2003 bei einem Arbeitsunfall, den der Beklagte, der in demselben Betrieb beschäftigt war, (mit-)verursacht hatte. Die Klägerin leidet seit dem Tod ihres Sohnes unter einer schweren depressiven Störung. Sie begehrt von dem Beklagten unter Berücksichtigung eines möglicherweise gegebenen Mitverschuldens ihres Sohnes von einem Drittel ein angemessenes Schmerzensgeld (Vorstellung: 20.000,00 €).

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt sie ihr Klagebegehren weiter.

Gründe

Über die Revision war, da der Beklagte im Revisionstermin trotz rechtzeitiger Ladung nicht vertreten war, auf Antrag der Klägerin durch Versäumnisurteil zu entscheiden. Das Urteil ist jedoch keine Folge der Säumnis, sondern beruht auf einer Sachprüfung (vgl. BGHZ 37, 79, 81).

I.

Das Berufungsgericht meint, ein möglicher Schmerzensgeldanspruch der Klägerin sei ausgeschlossen, weil ihr Sohn einen Arbeitsunfall erlitten habe. Der Haftungsausschluss gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII gelte auch gegenüber Angehörigen und Hinterbliebenen von Versicherten desselben Betriebes. Er erfasse nicht nur die Ansprüche aus §§ 844, 845 BGB, sondern auch Ersatzansprüche aufgrund einer eigenen Gesundheitsverletzung Dritter, sofern diese - wie im Streitfall - eine mittelbare Folge des Unfalls sei. Da ein Versicherter unter den Voraussetzungen der §§ 104, 105 SGB VII selbst keinen (vollen) Ausgleich seines immateriellen Schadens erhalte, ergebe sich ein Wertungswiderspruch, wenn dieser Haftungsausschluss nicht auch für Schmerzensgeldansprüche schockgeschädigter Angehöriger gelte.

II.

Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Das Berufungsgericht geht davon aus, dass die Klägerin infolge des Unfalltodes ihres Sohnes einen so genannten Schockschaden erlitten hat, nämlich eine depressive Störung mit Krankheitswert, die nach Art und Schwere deutlich über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen nahe Angehörige bei Todesnachrichten erfahrungsgemäß ausgesetzt sind (vgl. Senatsurteile BGHZ 56, 163, 164 ff. und 93, 351, 355 ff.). Auf der Grundlage dieser Feststellungen zieht es zu Recht einen Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten auf Ersatz ihres immateriellen Schadens gemäß §§ 823 Abs. 1, 253 BGB in Betracht.

2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist dieser Anspruch vorliegend nicht gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen.

a) Nach dem Wortlaut des § 105 Abs. 1 SGB VII umfasst der Haftungsausschluss alle Ansprüche des Versicherten sowie seiner Angehörigen und Hinterbliebenen aus Personenschäden. Das sind all diejenigen Schäden, die durch die Verletzung oder Tötung des Versicherten verursacht worden sind (vgl. BAG, NJW 1989, 2838 [zu § 636 Abs. 1 RVO]). Dazu zählen grundsätzlich sowohl Ansprüche auf Ersatz materieller Schäden (z.B. aus den §§ 844 und 845 BGB, vgl. HWK/Giesen, 2. Aufl., § 104, Rn. 6 m.w.N.) als auch solche auf Ersatz immaterieller Schäden (vgl. BVerfGE 34, 118, 128 ff.; BVerfG, NJW 1995, 1607; ausführlich AR-Blattei SD (Rolfs), Stand Dezember 2001, 860.2, Rn. 175 ff.; kritisch Richardi, NZA 2002, 1004, 1009). Ob der Haftungsausschluss auch Schmerzensgeldansprüche von Angehörigen oder Hinterbliebenen eines Versicherten aufgrund so genannter Schockschäden erfasst, hat der Senat bislang offen gelassen (vgl. Urteil vom 13.01.1976 - VI ZR 58/74 - VersR 1976, 539, 540 [zu § 636 RVO]). Diese nunmehr zu entscheidende Frage ist zu verneinen.

b) §§ 104 und 105 SGB VII setzen voraus, dass ein Versicherungsfall im Sinne von § 7 SGB VII eingetreten ist, also ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit. Ein Arbeitsunfall ist ein Unfall eines Versicherten infolge einer versicherten Tätigkeit (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Die Klägerin selbst zählt nicht zu dem Kreis der Versicherten (§ 2 SGB VII). Sie selbst hat auch keinen Arbeitsunfall erlitten, sondern allein ihr Sohn. Wären beide bei einem Arbeitsunfall des Sohnes gleichzeitig und unmittelbar körperlich verletzt worden, wäre ein eigener Anspruch der Klägerin nicht gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen. Wie das Berufungsgericht zu Recht ausführt, hat die in §§ 104, 105 SGB VII geregelte Haftungsbegrenzung eigene Gesundheitsschäden von Angehörigen ersichtlich nicht im Blick.

Für Gesundheitsbeeinträchtigungen, die Angehörige nicht unmittelbar bei einem Arbeitsunfall eines Versicherten erleiden, sondern die - wie Schockschäden - mittelbar durch den Versicherungsfall hervorgerufen werden, kann nichts anderes gelten. Der Anspruch des Angehörigen beruht auch in einem solchen Fall auf der Verletzung eines eigenen Rechtsguts (AR-Blattei SD [Rolfs], aaO, 860.2, Rn. 173 f.; ErfKomm/Rolfs, 7. Aufl., § 104, Rn. 29; Blomeyer in: Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht, 2. Aufl., § 61, Rn. 4; Wussow, WI 2006, 181, 182; HWK/Giesen, aaO, § 104 Rn. 6; zu §§ 636, 637 RVO schon: Gamillscheg/Hanau, Die Haftung des Arbeitnehmers, 2. Aufl., S. 187).

c) Ein Haftungsausschluss ist auch nicht nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 105 Abs. 1 SGB VII geboten.

aa) Die in dieser Vorschrift bestimmte Haftungsbegrenzung dient dem Schutz des Betriebsfriedens (vgl. MünchKommBGB/Oetker, 4. Aufl., § 253, Rn. 34). Erleidet ein Versicherter einen Arbeitsunfall, kommt diesem Gesichtspunkt nur dann Bedeutung zu, wenn der Versicherte trotz seiner Verletzung weiterhin dem Betrieb angehört. Das wird bei schweren Verletzungen, die bei nahen Angehörigen einen Schockschaden auslösen, nur selten der Fall sein. Beruht der Schockschaden - wie im Streitfall - auf einem tödlichen Arbeitsunfall eines Versicherten, ist dem Friedensargument der Boden entzogen.

bb) Für ein weites Verständnis des § 105 Abs. 1 SGB VII (dafür BeckOK BGB/Spindler, § 844, Rn. 2; vgl. auch Wussow/Schneider, Unfallhaftpflichtrecht, 15. Aufl., Kap. 80, Rn. 27), das für einen Ausschluss auch von Ansprüchen wie dem vorliegenden sprechen könnte, ließe sich anführen, dass Arbeitnehmer eines Betriebs in einer Funktions- und Gefahrengemeinschaft stehen, in der jeder Beteiligte dem anderen schon durch leichte Unaufmerksamkeit einen erheblichen Schaden zufügen und sich dadurch dem Risiko hoher Ersatzforderungen aussetzen kann. Um dem zu begegnen, ist ein weitgehender Anspruchsausschluss auch im Falle einer eigenen Schädigung grundsätzlich gerechtfertigt (Schmitt, SGB VII, 2. Aufl., § 105, Rn. 2; Lepa, VersR 1985, 8, 9). Ein genereller Haftungsausschluss ist dazu aber weder erforderlich noch im Gesetz angelegt.

cc) Gegen eine Erstreckung des Haftungsausschlusses auf Schmerzensgeldansprüche naher Angehöriger wegen eines Schockschadens spricht vor allem, dass die gesetzliche Unfallversicherung insoweit keine Leistungen vorsieht (Otto/Schwarze, Die Haftung des Arbeitnehmers, 3. Aufl., Rn. 561; Gamillscheg/Hanau, aaO, S. 187; Rolfs, Die Haftung unter Arbeitskollegen und verwandte Tatbestände, 1995, S. 207; Wussow, WI 2006, 181 f.). Richtig ist, dass nicht allen durch § 105 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossenen Ansprüchen Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung gegenüber stehen. Dies gilt etwa für den Anspruch aus § 845 BGB (dazu KassKomm/Ricke, § 104 SGB VII, Rn. 5; vgl. auch Schmitt, aaO, § 104, Rn. 12). Auch erhält der verletzte Versicherte selbst keine dem Schmerzensgeld kongruente Leistung (BVerfGE 34, 118, 128 ff.; BVerfG, aaO; ErfKomm/Rolfs, aaO, § 104, Rn. 3; BGB-RGRK/Schick, 12. Aufl., § 618, Rn. 191; Wussow/Schneider, aaO, Kap. 80, Rn. 28). Insoweit deckt sich das Leistungssystem der gesetzlichen Unfallversicherung nicht mit den zivilrechtlichen Haftungstatbeständen. Der Umstand, dass die Unfallversicherung nicht für jede Schadensart einen Ausgleich vorsieht, rechtfertigt indessen nicht die Erstreckung des Haftungsausschlusses auf Schockschäden naher Angehöriger.

Der Ausschluss von Ersatzansprüchen durch §§ 104, 105 SGB VII ist gerechtfertigt, weil er durch das Leistungssystem der gesetzlichen Unfallversicherung kompensiert wird ("Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz", dazu Staudinger/Oetker, BGB, 13. Bearb. [2002], § 618, Rn. 324 m.w.N.). Dafür ist wegen der Verschiedenheit der beiden Ordnungssysteme (Lepa, aaO, S. 8) nicht erforderlich, dass der verunglückte Versicherte im konkreten Einzelfall tatsächlich Leistungen erhält (AR-Blattei SD [Rolfs], aaO, 860.2, Rn. 171). So entstehen die sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche mit dem Versicherungsfall. Im Unterschied zum zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch wird dafür kein Schadensnachweis verlangt. Ihre Berechnung erfolgt vielmehr abstrakt. Die Unterschiede in den Anspruchsinhalten können für den Verletzten von Vorteil, aber auch von Nachteil sein (Lepa, aaO, S. 9). Eine Kompensation setzt aber voraus, dass für die bei einem Arbeitsunfall eingetretene Rechtsgutverletzung sozialversicherungsrechtliche Leistungen jedenfalls grundsätzlich in Betracht kommen. Dies ist nicht der Fall, wenn das System der Unfallversicherung nicht etwa nur eine bestimmte Schadensart ausklammert, sondern für eine Rechtsgutsverletzung überhaupt keine Leistungen vorsieht, wie dies bei der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit nicht versicherter Dritter der Fall ist.

Soweit in Fällen der Tötung eines Versicherten Angehörigen und Hinterbliebenen unfallversicherungsrechtliche Ansprüche gemäß §§ 39 Abs. 2, 54, 55 bzw. §§ 63 ff., 69 SGB VII zustehen können (vgl. Schmitt, aaO, § 104, Rn. 10; Brackmann/Krasney, SGB VII, Stand April 2003, § 104, Rn. 14), beruhen diese allein auf einer Verletzung des Versicherten. Sie treten an die Stelle der Ansprüche aus §§ 844, 845 BGB, nämlich der Ansprüche, die auf Ersatz ihres mittelbaren Vermögensschadens gerichtet sind. Im Unterschied dazu sieht die gesetzliche Unfallversicherung zum Ausgleich solcher Schäden, die Angehörige und Hinterbliebene - wie im Falle des Schockschadens - durch die Verletzung eines eigenen Rechtsguts erleiden, überhaupt keine Leistungen vor. Fehlt insoweit aber eine Kompensation, gibt es keine Rechtfertigung für einen Ausschluss solcher Ansprüche.

dd) Zu Unrecht beruft sich das Berufungsgericht für seine Auffassung auf die Entscheidung des erkennenden Senats (Senatsurteil BGHZ 56, 163, 168 ff.; dazu Staudinger/Hager, BGB 13. Bearb. [1999], § 823, Rn. B 38; Rüßmann in: jurisPK-BGB, 3. Aufl., § 846, Rn. 8), nach der ein Mitverschulden des unmittelbar Verletzten dem Angehörigen, der einen Schockschaden erlitten hat, anzurechnen sein kann. Wie die Revision mit Recht geltend macht, beruht diese Zurechnung allein auf Billigkeitserwägungen. Diese rechtfertigen indessen keine ausdehnende Anwendung des Haftungsausschlusses von § 105 Abs. 1 SGB VII auf Anspr, der Angehörigen von Versicherten aufgrund eigener Gesundheitsbeeinträchtigungen zustehen (ErfKomm/Rolfs, aaO, § 104, Rn. 29; Gamillscheg/Hanau, aaO, S. 186 f.; HWK/Giesen, aaO; Rolfs, aaO, S. 206 f.; a.A.: OLG Celle, VersR 1988, 67, 68; ArbG Osnabrück, ARST 1969, 106 f.; Küppersbusch, Ersatzansprüche bei Personenschäden, 9. Aufl., Rn. 306; Jahnke, r+s 2003, 89, 92; vgl. auch OLG Zweibrücken, SP 2002, 127). Der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) gebietet in Fällen der vorliegenden Art nicht die vollständige Haftungsfreistellung des Schädigers. Soweit den Versicherten ein Mitverschulden an dem Arbeitsunfall trifft, wird Billigkeitserwägungen in hinreichendem Maße dadurch Rechnung getragen, dass der Ersatzanspruch des geschädigten Angehörigen gemäß § 254 Abs. 1 BGB der Höhe nach gemindert ist. Dies hat die Klägerin vorliegend im Rahmen ihrer Antragstellung berücksichtigt.


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