Entgangener Verdienst naher Angehöriger sind vermehrte Bedürfnisse des Geschädigten

09.04.2019 - Bundesgerichtshof - Aktenzeichen VI ZR 377/17

Bundesgerichtshof

Urt. v. 09.04.2019, Az.: VI ZR 377/17       

Gehört zu:

OLG Bamberg, 05.09.2017 - 5 U 100/16   

eigene Zusammenfassung

In der vorliegenden Entscheidung hat der BGH über ein Urteil des OLG Bamberg zu entscheiden gehabt. Der Vater eines verletzten Kindes hatte seinen Beruf aufgegegeben, um sein in einem Verkehrsunfall schwer verletztes Kind selbst über Jahre hinweg zu betreuen. Der BGH hatte nun darüber zu entscheiden, in wie weit der entgangene Verdienst des Vaters als vermehrte Bedürfnisse des Kindes zu behandeln sind. Das OLG hat im Rahmen seines Urteils Ausführungen eines Sachverständigen übergangen. Der BGH hat die Sache zurück verwiesen und angemerkt, dass sich das OLG eigene nicht begründete Sachkunde angemaßt hätte, in dem es die Ausführungen des Sachverständigen übergangen hat. Dies stellt die Nichtberücksichtigung von Parteivortrag und somit einen revisiblen Fehler im Urteil dar, da das rechtliche Gehör inwoeit nicht gewährt wurde, Art 103 GG.

Was muss vorliegen, dass zusätzliche Betreuung und Pflege durch einen Familienangehörigen einen Anspruch auf Ersatz von vermehrten Bedürfnissen des Verletztenbegründen?

Die Förderung des Verletzten muss geeignet sein seine Leistungsfähigkeit, möglichst nahe an das heran kommen zu lassen, was er ohne den Unfall bei normaler körperlicher und geistiger Entwicklung und normaler schulischer Ausbildung zu leisten im Stande gewesen wäre.

Fördermaßnahmen müssen über das hinaus gehen, was allgemein auch bei einem Gesunden an Ausbildungskosten bzw. an allgemeinen Lebenshaltungskosten aufzuwenden ist (vgl. BGH NJW-RR 1992, 791)

Der Einsatz von Familienangehörigen ist angemessen auszugleichen (vgl. BGH VersR 1978, 396; BGH NJW 1999, 2819). Hierbei ist aber nur das zu entschädigen, was den Bereich normaler elterlicher Fürsorge übersteigt und auch durch Einsatz fremder Hilfskräfte erledigt werden könnte (vgl. BGH NJW 1999, 2819). Der Verdienstausfall naher Angehöriger wegen entsprechender unentgeltlich erbrachter Betreuungsleistungen ist ein geldwerter Verlustposten, der sich als Mehraufwandverwirklicht und vom Schädiger zu ersetzen ist. Die Unentgeltlichkeit von Hilfeleistung naher Angehöriger soll nach § 843 Abs. 4 BGB nicht dem Schädiger zu Gute kommen.

Die Höhe des zu ersetzenden Schadens richtet sich dabei grundsätzlich nach dem Nettolohn einer vergleichbaren entgeltlich eingesetzten Pflegekraft und regelmäßig nicht nach dem entgangenen Verdienst des Angehörigen (Anschluss an BGH, Urteil vom 28. August 2018 - VI ZR 518/16 , NJW 2019, 362 Rn. 12).

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Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Bamberg vom 5. September 2017 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als auf die Berufung der Beklagten zum Nachteil des Klägers erkannt worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren wird auf bis 80.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Der am 26. Oktober 1989 geborene Kläger macht gegenüber den Beklagten Schadensersatzansprüche wegen eines Verkehrsunfalls vom 13. Juni 1996 geltend, bei dem er am Kopf schwer verletzt wurde und dauerhafte Schäden hinsichtlich seiner kognitiven Fähigkeiten davontrug. Er ist zu 100 % schwerbehindert. Die alleinige Haftung der Beklagten aus dem Unfallereignis ist dem Grunde nach unstreitig.

Nachdem im Jahr 1999 die Rehabilitationsbemühungen beim Kläger stagnierten, entschloss sich der Vater des Klägers Ende 1999, seinen ausgeübten Beruf als Diplomingenieur für Maschinenbau aufzugeben, und betreut seither fortlaufend seinen Sohn. Auch durch Fördermaßnahmen des Vaters neben der Schule, dem Nachhilfeunterricht und neben medizinischen Therapiemaßnahmen gelang es, dem Kläger Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Er erlangte unter Hilfestellung seines Vaters im Juli 2008 einen Hauptschulabschluss. Danach versuchte der Kläger ab September 2009 die Ableistung des Berufsgrundschuljahres, dies gelang jedoch auch nach einer Wiederholung bis Ende 2010 nicht. Ab Februar 2011 war der Kläger bei der Gemeinde G. auf dem Bauhof beschäftigt; nachdem es zu einer personellen Veränderung und Mobbingvorfällen gegenüber dem Kläger gekommen war, wurde diese Tätigkeit Mitte 2012 aufgegeben.

Dem hiesigen Rechtsstreit sind bereits Verfahren vor dem Landgericht Aschaffenburg sowie vor dem Oberlandesgericht Bamberg vorausgegangen (vgl. nur Urteil des Oberlandesgerichts Bamberg vom 28. Juni 2005 - 5 U 23/05 , juris). Nunmehr begehrt der Kläger Ersatz der aus seiner Sicht weiterhin bestehenden vermehrten Bedürfnisse gemäß § 843 Abs. 1 BGB in Höhe des Verdienstausfalles seines Vaters für den Zeitraum vom 1. August 2010 bis zum 31. Juli 2013 in Höhe von 208.661,00 Euro.

Das Landgericht hat der Klage in Höhe von 151.815,53 Euro stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht das Urteil abgeändert und der Klage lediglich in Höhe von 85.361,57 Euro stattgegeben. Im Übrigen hat es die Klage ab- und die weitergehende Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht, soweit auf die Berufung der Beklagten zum Nachteil des Klägers erkannt worden ist.

1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dass Fördermaßnahmen, die dazu dienten, dem Geschädigten so weit als möglich einen altersentsprechenden Leistungsstand insbesondere im Lesen, Schreiben, Rechnen und hinsichtlich des Allgemeinwissens als Grundvoraussetzung für eine Berufsausbildung und spätere Erwerbstätigkeit zu verschaffen, der Schadensgruppe der sog. vermehrten Bedürfnisse im Sinne von § 843 Abs. 1 BGB zuzuordnen seien, wenn und soweit es sich um einen unfallbedingt erhöhten Aufwand und nicht nur um allgemeine, auch einem Gesunden entstehende Ausbildungskosten bzw. um allgemeine Lebenserhaltungskosten handle. Zum Zeitpunkt der ersten Entscheidung des Berufungssenats vom 28. Juni 2005 sei dies der Fall gewesen, weil der Kläger allein durch die Unfallfolgen außer Stande gewesen sei, ohne zusätzliche intensive Förderungen seinen Leistungsstand zu verbessern. Der Verdienstausfall, den ein naher Angehöriger wegen dem Verletzten unentgeltlich erbrachter Betreuungsleistungen erleide, könne als geldwerter Verlustposten, in welchem sich der Mehraufwand in der Vermögenssphäre konkret niedergeschlagen habe, eine entsprechende Ersatzpflicht des Schädigers begründen, da eine solche Hilfeleistung naher Angehöriger entsprechend dem Rechtsgedanken des § 843 Abs. 4 BGB nicht dem Schädiger zugutekommen dürfe. Das Erstgericht habe sachverständig beraten und grundsätzlich rechtsfehlerfrei festgestellt, dass bei dem Kläger weiterhin vermehrte Bedürfnisse bestünden. Das Erstgericht habe aber nicht den zeitlichen Aufwand der vom Vater erbrachten Betreuungs- bzw. Fördermaßnahmen festgestellt. Eine Berechnung der vermehrten Bedürfnisse entsprechend des Verdienstausfalls des tätig werdenden Angehörigen sei nur geboten, wenn der Umfang der erbrachten Leistungen auch dessen Berufsaufgabe rechtfertige. Bei der Beurteilung des tatsächlich erfolgten Zeitaufwandes handle es sich nicht um eine Sachverständigenfrage, sondern um eine dem Zeugenbeweis zugängliche Tatfrage. Dazu sei der Vater des Klägers als Zeuge vernommen worden. Bis zum 31. Juli 2011 sei die Entscheidung des Vaters gerechtfertigt gewesen, unter Aufrechterhaltung seiner Berufsaufgabe den Kläger zu betreuen; daher seien die vermehrten Bedürfnisse des Klägers solange nach dem Verdienstausfall des Vaters zu beurteilen. Der zeitliche Aufwand der zu berücksichtigenden Maßnahmen des Vaters habe sich aber ab August 2011 so vermindert, dass er eine Aufrechterhaltung der Berufsaufgabe des Vaters nicht mehr rechtfertige. Insoweit komme ab diesem Zeitpunkt nur noch ein Ersatz des tatsächlichen zeitlichen Aufwandes entsprechend den Kosten einer Pflegekraft in Betracht. Von August 2011 bis zum 31. Juli 2012 habe ein zeitlicher Aufwand von täglich weniger als halbtags vorgelegen und ab August 2012 habe der zeitliche Aufwand täglich nur zwei bis drei Stunden betragen. Für den Zeitraum von August 2011 bis 31. Juli 2012 setze sich dieser aus einem zeitlichen Umfang für die Bearbeitung von Modellbausätzen und sonstigen Unternehmungen mit dem Kläger von zwei bis drei Stunden täglich und einer Stunde Fahrzeit zusammen. Ab August entfalle die Fahrzeit. Im Übrigen seien die klägerseits geschilderten Positionen bzw. Tätigkeiten keine Förder- bzw. Betreuungsmaßnahmen bzw. stellten keine unfallbedingten ersatzfähigen Schäden dar. Die Kosten des tatsächlich erfolgten Aufwandes seien gemäß § 287 ZPO zu schätzen, nach der Rechtsprechung richte sich die Höhe des insoweit zu ersetzenden Schadens grundsätzlich nach dem Nettolohn einer vergleichbaren entgeltlich eingesetzten Hilfskraft. Diesen schätze der Senat auf 11,00 Euro die Stunde.

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht mit diesen Ausführungen den Kläger in entscheidungserheblicher Weise in seinem aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat.

a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. BVerfGE 88, 366, 375 f. [BVerfG 25.05.1993 - 1 BvR 345/83] mwN).

Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen (Senat, Beschlüsse vom 8. März 2016 - VI ZR 243/14 , juris Rn. 12; vom 13. Januar 2015 - VI ZR 204/14 , NJW 2015, 1311 Rn. 5 mwN).

b) Diesen Anforderungen genügt das Berufungsurteil nicht.

Der Kläger hat nach dem Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts vom 17. Januar 2017, nach dem für einen schlüssigen Klagevortrag die schriftsätzliche Darlegung im Einzelnen für erforderlich erachtet wurde, welche Betreuungs-/Fördermaßnahmen der Vater für den Kläger und mit welchem Zeitaufwand im streitigen Zeitraum durchgeführt habe, mit Schriftsatz vom 23. Februar 2017 eine Übersicht der Maßnahmen und der dafür aufgewendeten Zeit vorgelegt und insoweit Beweis angetreten durch die Zeugenvernehmung des Vaters. Diesen hat das Berufungsgericht auch vernommen und danach vorgetragenen Aktivitäten die Eigenschaft von Fördermaßnahmen abgesprochen. Es hat dabei unbeachtet gelassen, dass die Sachverständige in erster Instanz erklärt hatte, dass in Bezug auf das soziale Umfeld und die Selbständigkeit des Klägers das familiäre Modell sinnvoll sei. Die Fördermaßnahmen hätten dazu beigetragen, den Kläger psychosozial zu stabilisieren. Aufgrund des Schädel-Hirn-Traumas bestehe ein erhöhtes Risiko für eine psychosoziale Belastung, da der Kläger aufgrund seiner kognitiven Defizite dies nicht wie ein gesunder Mensch verarbeiten könne. Es gebe einen erheblichen Unterschied zwischen der familiären Förderung des Klägers und einer familiären Betreuung eines gesunden Gleichaltrigen. Sämtliche Tätigkeiten des Klägers müssten begleitet werden, alle Arbeiten auf ihn angepasst werden. Es sei unrealistisch, dass der Kläger komplett selbständig wohne und lebe, er bedürfe noch der Betreuung. Diese Ausführungen der Sachverständigen hat sich der Kläger, wie die Nichtzulassungsbeschwerde mit Erfolg geltend macht, in der Berufungserwiderung ausdrücklich zu eigen gemacht.

Die Nichtberücksichtigung dieses für den Kläger günstigen Beweisergebnisses bedeutet, dass das Berufungsgericht erhebliches Vorbringen des Klägers übergangen und damit dessen verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat. Es hat, worauf die Nichtzulassungsbeschwerde zutreffend hinweist, verschiedene Aktivitäten des Vaters, die nach dem Vortrag des Klägers therapeutische Maßnahmen, Beschäftigung, Arbeitstherapie, Anleitung bei der täglichen Lebensgestaltung darstellen, wie Gespräche und gemeinsame Arbeiten, nicht dem Mehrbedarf zugeordnet. Damit hat es sich Sachkunde bei der Beurteilung der Betreuungsbedürftigkeit des Klägers angemaßt, deren Voraussetzungen es den Parteien nicht offengelegt hat. Es hätte deshalb einer erneuten Anhörung der Sachverständigen bedurft, die in der ersten Instanz nicht im Einzelnen zum Umfang der Fähigkeiten des Klägers zur selbständigen Alltagsbewältigung und Selbstbeschäftigung, seinem konkreten Betreuungsbedarf und den daran zu messenden konkreten Aktivitäten des Vaters befragt worden war.

III.

Die weiteren Rügen der Nichtzulassungsbeschwerde hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet.

Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass dem Kläger gegen die Beklagten ein Anspruch auf Ersatz der vermehrten Bedürfnisse zusteht, die ihm infolge der unfallbedingten dauernden Beeinträchtigung seiner Gesundheit entstanden sind (§ 843 Abs. 1 Alt. 2 BGB). Es hat auch zutreffend angenommen, dass zu den vermehrten Bedürfnissen sowohl die Kosten für die Beschäftigung einer Pflegeperson als auch der Betreuungsaufwand naher Angehöriger, der über die üblicherweise im Krankheitsfall zu erwartende persönliche Zuwendung innerhalb der Familie hinausgeht, gehören (vgl. Senatsurteile vom 10. November 1998 - VI ZR 354/97 , BGHZ 140, 39 Rn. 13; vom 12. April 2011 - VI ZR 158/10 , BGHZ 189, 158 ; vom 19. Mai 1981 - VI ZR 108/79 , VersR 1982, 238; vom 8. Juni 1999 - VI ZR 244/98 , VersR 1999, 1156 Rn. 7, 14; Zoll, NJW 2014, 967, 970). Die dem Geschädigten gegenüber unentgeltlich erbrachte Pflegetätigkeit durch nahe Angehörige ist im Rahmen des Erforderlichen gemäß § 843 Abs. 1 Alt. 2 BGB unabhängig davon angemessen abzugelten, ob diese einen Verdienstausfall erlitten haben (Senatsurteil vom 8. Juni 1999 - VI ZR 244/98 , VersR 1999, 1156, 1157). Die Höhe des zu ersetzenden Schadens richtet sich dabei grundsätzlich nach dem Nettolohn einer vergleichbaren entgeltlich eingesetzten Pflegekraft (Senatsurteile vom 28. August 2018 - VI ZR 518/16 , NJW 2019, 362 Rn. 12; vom 10. November 1998 - VI ZR 354/97 , BGHZ 140, 39, 44 f.) und regelmäßig nicht nach dem entgangenen Verdienst des Angehörigen.

Von einer Begründung im Übrigen wird abgesehen (§ 544 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO).


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